AM100 – Brief an Walter Gropius
Toblach, Donnerstag, 17. August 1911


Endlich ein Tag der Ruhe – den ich zu meiner Sichtung und Beruhigung – lesend – spielend – denkend verbrachte. Ich war ganz allein.

, Ary & in Cortina. Ich mit : Hätte ich doch solcher Tage mehr. Ich fühle mich wie ich es brauche — wie ich immer mehr Ich Selbst werde in solchen Momenten – und will mir das für die Zukunft auch sichern.

Vor allem kein rudelweises Leben. Das zieht weg vom Eigenen. —

Was habe ich heute alles

gedacht – erlebt – erlitten — mich erfreut. –

Und wäre ich allein gewesen nach Deinem Fortgang — Du hättest andere Briefe von mir bekommen.!!

Schreibe mir alles – wie Du jetzt lebst – was Du jetzt lebst – allein und ohne mich[.] —

(Aber nur körperlich – was freilich ewig groß und immer wahr bleiben wird. —

Denn sonst – bin ich bei Dir!


Heutmehr denn je!![)] –

Ich habe die Mozartbriefe – die – und Dein und die Antwort der deutschen Künstler gelesen. Ich glaube – genug für einen Tag.

Und dabei vielviel an Dich gedacht. —

Bleib Du mir weiter, was Du warst. —

Ob unsere beiden para-

lellen [!] Wege sich je einst zu einem Einzigen verschmelzen werden – – „weiß ein Gott allein.“ Zukunft ist’s und kann eine schöne Zukunft sein!!! —

So leben wir weiter – jeder seiner Vollendung entgegen[.] —

Sei lieb mit mir!

( hat eine unbändige Freude mit den Abziehbildern.)

Deine


Apparat

Überlieferung

, , , .

Quellenbeschreibung

1 DBl. (4 b. S.) – Briefpapier.

Beilagen

Umschlag, , Berlin-Wilmersdorf | Nicolsburgerplatz 4 G. IV | Herrn Walter Gropius; PSt. (lt. , S. 532, Nr. 173): T[OBLA]CH 2 | 18.VI[II].11 IX– | * d *; von WG mit einer 4a versehen (Zur Nummerierung von Alma Mahlers Briefumschlägen); rückseitig: WG187.

Druck

Erstveröffentlichung.

Korrespondenzstellen

Antwort auf WG186 vom 16. August 1911 (Ich mühe mich ab, um mit Dir Schrittzuhalten im Wettlauf nach der Vollendung): So leben wir weiter – jeder seiner Vollendung entgegen. Beantwortet durch WG188 vom 19. August 1911 (Ich halte es nicht für gut 4 Bücher an einem Tag zu lesen): Ich habe die Mozartbriefe – die Beethovenbriefe – und Dein chinesisches Buch und die Antwort der deutschen Künstler gelesen. Ich glaube – genug für einen Tag.

Datierung

Poststempel: schwer lesbare Monatsziffern.

Die Worte Endlich ein Tag der Ruhe – den ich zu meiner Sichtung und Beruhigung – lesend – spielend – denkend verbrachte weisen darauf hin, dass AM den vorliegenden Brief am Tag vor der Stempelung (18. August, 9 Uhr morgens) abends geschrieben hat. Außerdem hatte AM in AM99 vom 15. August 1911 geschrieben: Morgen kommt er [Emil Gutmann] für den ganzen Tag. Daher konnte der Tag der Ruhe (AM100) nur am 17. August 1911 gewesen sein. Der Monat August wurde aus dem Briefinhalt und WGs chronologischer Briefnummerierung erschlossen.

Übertragung/Mitarbeit


(Bettina Schuster)
(Pia Schumacher)


A

Mama war wahrscheinlich seit 1. August 1911 mit ihrer Tochter Moll bei , s. AM94 vom Samstag, 29. Juli 1911: Mama übersiedelt am Dienstag zu mir.

B

Ary – wahrscheinlich .

C

Cortina – Cortina d’Ampezzo.

D

Mozartbriefe – nicht in überlieferter Bibliothek ().

E

Beethovenbriefe – In Bibliothek befanden sich Sämtliche Briefe und Aufzeichnungen in zwei Bänden, 1907 herausgegeben von bei C. W. Stern zu Wien und Leipzig (, S. 124).

F

Dein chinesisches Buch – möglicherweise das 1911 erschienene Buch von in der Übersetzung von . Der Holzschnitt des Bucheinbandes stammte von , die seit 1910 mit ihrem späteren Mann und dessen engem Freund bekannt war (, S. 8f.). Vgl. ein Gespräch von mit , wonach diese ungefähr im Jahr 1916 in „der Bibliothek ihrer […] unter anderem Texte von und ein Buch des chinesischen Poeten und Denkers “ fand (, S. 21) – sehr wahrscheinlich dessen (erstmals 1910 in deutscher Übersetzung von erschienen).

G

Antwort der deutschen Künstler – Die im Juli 1911 veröffentlichte Broschüre Im Kampf um die Kunst. Die Antwort auf den „Protest deutscher Künstler“ steht in Verbindung mit dem sogenannten Bremer Künstlerstreit, einer Auseinandersetzung um den Stellenwert moderner Malerei innerhalb der zeitgenössischen Kunstlandschaft, vor allem innerhalb des Museums- und Galeriewesens. Sie enthält Stellungnahmen von 47 Künstlern, darunter auch , die sich gegen reaktionäre Ankaufpolitik und für impressionistische und expressionistische Malerei positionierten, s. .

H

„weiß ein Gott allein.“ – Zitat möglicherweise nach dem fünften Abschnitt („G.[eorge] Elliot“) der „Streifzüge eines Unzeitgemäßen“ aus (1889): „Das Christentum setzt voraus, daß der Mensch nicht wisse, nicht wissen könne, was für ihn gut, was böse ist: er glaubt an Gott, der allein es weiß“ (, Götzen-Dämmerung, S. 114, Z. 6–8). In Bibliothek stand der entsprechende achte Band der Gesamtausgabe (erste Abteilung) von 1899 des Leipziger Verlags C. G. Naumann (, S. 119).

I

Ursprünglich: Volländung.

J

Abziehbildern – s. AM95 vom 30. Juli 1911: Abziehbilder.